Jahrzehnte lang galt die eiserne Regel: Erfolgreiche Marken stehen für eine klare Kompetenz. Und diese Kompetenz darf durch Angebotserweiterungen nicht verwässert werden. Rolex steht für sportliche Luxusuhren. Volvo steht für sichere Automobile. Zara steht für High Fashion zum günstigen Preis. Wieder und wieder wurde die Regel fast Mantra-artig in der Fachliteratur wiederholt.
Mit ihren ambitionierten Wachstumszielen haben Marken immer wieder versucht, über ausgeklügelte Diversifikationsstrategien in neue Märkte vorzustossen. Viele dieser Versuche endeten im Desaster. Nivea musste vor einigen Jahren ihren Ausflug ins Make-up-Geschäft sang und klanglos abbrechen. Die «Sexyness» der dekorativen Kosmetik hat nichts mit der Markenkompetenz «Pflege» zu tun. Bic, der Hersteller von Wegwerf-Kugelschreibern, -Feuerzeugen und -Rasierern musste erkennen, dass die neu lancierte Unterwäsche-Linie keine Verbindung zur Markenkompetenz aufwies. Viele Angebotserweiterungen der letzten Jahrzehnte sind daran gescheitert, dass die eiserne Regel der Markenkompetenz nicht eingehalten wurde.
Seit einigen Jahren gibt es jedoch ein Segment, dass dieses Prinzip konsequent missachtet und damit grossen Erfolg hat: die Luxusgüter-Industrie. Der italienische Juwelier Bulgari betreibt opulente 5-Sterne-Hotels an den schönsten Orten dieser Welt. Der für seine eleganten Abendkleider berühmte Couturier Elie Saab baut glamouröse Luxus-Appartments in Dubai. Der französische Top-Weinproduzent Cheval Blanc entwickelt ultimative Luxus-Resorts für Stars und Sternchen.
Was passiert da?, fragt man sich als Markenprofi. Gilt die jahrzehntealte Regel der nicht verhandelbaren Markenkompetenz nicht mehr? Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema bringt mich zur Erkenntnis, dass im Zusammenhang mit Angebotserweiterungen ein neues Zeitalter der Markenführung begonnen hat. Bisherige Regeln gelten nur noch bedingt. Neue Regeln entstehen, die einen grossen Einfluss auf viele Marken haben werden. Ziehen Sie sich warm an, denn: Die anthologische Marke kommt.
Gemäss Wikipedia ist eine Anthologie eine themenbezogene Zusammenstellung aus literarischen, musikalischen oder grafischen Werken. Auf die Markenführung bezogen ist die anthologische Marke also eine kuratierte Zusammenstellung von unterschiedlichen Angeboten und Kompetenzen, welche themenbezogen auf einem identitätsorientierten Lifestyle-Versprechen basieren. Juwelen und Hotels. Haute Couture und Immobilien. Spitzen-Bordeaux und Resorts.
Gemäss einer aktuellen Marktstudie von Bain & Company zur weltweiten Luxusgüterbranche werden viele Luxus-Marken zukünftig ihre typischen Wettbewerbsgrenzen überschreiten und als sogenannte Exzellenzplattformen in unterschiedlichen Märkten agieren. Sie werden zu anthologischen Marken.
Gilt dieser Konvergenz-Trend nur für die Luxusgüterbranche? Ich glaube nicht. Immer mehr Lifestyle-Marken verfolgen diese Strategie: Apple und Facebook erobern mit Apple Card und Libra die Finanzbranche. Ralph Lauren und Armani eröffnen Cafés und Restaurants. Prada steigt mit der Pasticceria Marchesi ins Konfektgeschäft ein.
Der Grund für dieses Phänomen liegt neben der digitalen Machbarkeit in der zunehmenden Bedeutungszunahme der Customer Experience. Eine zeitgemässe Marke verspricht heute ein wertebasiertes Lebensgefühl, welches an allen Marken-Touchpoints konsequent erlebbar gemacht wird. Und dieses Lebensgefühl ist nicht mehr auf ein monothematisches Angebot im Sinne einer Markenkompetenz beschränkt.
Lifestyle ist in und wird zum Treiber in vielen Branchen, in denen das Thema bis anhin keine Bedeutung hatte. Schweizer Privatbanken stellen ehemalige Marketing-Teams von Luxusuhren-Marken ein. Abgänger der Hotelfachschule Lausanne sind gefragte Nachwuchs-Manager ausserhalb der klassischen Hotellerie. Immer mehr Marken setzen auf identitätsorientierte Lifestyle-Konzepte.
Wundern Sie sich also nicht, wenn in naher Zukunft eine Airline-Marke in den Reisegepäck-Markt einsteigt, ein internationales Beratungsunternehmen eine Elite-Universität gründet oder eine Hotelgruppe eine Private-Day-Spa-Kette aufbauen wird. Anthologische Markenkonzepte werden überall dort anzutreffen sein, wo Lifestyle eine Rolle spielt. Und dieser Konvergenz-Trend wird nicht nur im Luxusgüter-Markt stattfinden.
Die Gefahr für traditionelle Marken besteht darin, dass tradierte Märkte von branchen-fremden, heute kaum vorstellbaren Konkurrenten ‘aufgerüttelt’ werden. Und weil Marken mit anthologischem Potenzial meist von Grossunternehmen gesteuert werden, verfügen diese tendenziell über Investitionspotenzial für kraftvolle Markteintritte. Gleichzeitig ergeben sich für traditionelle Marken aber auch Brand-Licensing- und Co-Branding-Chancen in der Zusammenarbeit mit anthologischen Marken.
In der schweizerischen Markenlandschaft sind heute kaum anthologische Markenkonzepte erkennbar. Nicht einmal im Luxusgüter-Markt. Liegt es am fehlenden Mut oder an der fehlenden Kreativität? Ich weiss es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass sich Lifestyle-orientierte Marken früher oder später die Frage stellen müssen, in welchen Kompetenz-fremden Märkten Wachstums-Chancen gesehen werden. Es lebe das neue Zeitalter der anthologischen Marke!